Erläuterungsbericht
Veröffentlichung im Zentralblatt für Industriebau 1987

 

Ein Konzept für das Europäische Forschungsinstitut Grenoble

Entwurfskonzept der Planungsgruppe Prof. Dr.-Ing. Degenhard Sommer Architekten Karlsruhe-Wien

Zentralblatt für Industriebau 1/87

Fachgruppe Architektur: D. Sommer und Mitarbeiter: E. Bopp, E. Schweitzer

Fachgruppe Tragwerk: Ingenieurgruppe Bauen Dr. Stiglat, Karlsruhe

Fachgruppe Elektronik: Ingenieurgruppe für Elektronik H. Brand

Fachgruppe Gebäudetechnik: Ingenieurbüro Spieß+Jaresch

Fachgruppe Landschaftsgestaltung: K. Bauer

Perspektive: P. Wels, Hamburg,Foto: H. Leiskat,   Illustrationen Hans-Günther Busch, Wiesbach

Mitarbeiter in Architekturbüro Bopp Pirmasens, Entwurf und Architektur: 

Emil Schweitzer, Uschi Bonk, Sabine Appelmann, Gerd Kalemba, Andrea Dechert,  Anja Hemmer.

 

In Grenoble wird zur Zeit ein Europäisches Forschungsinstitut realisiert, das vorerst den Titel European Synchrotron Radiation Facility erhalten hat (E.S.R.F.). Derzeit ist das Institut noch dem James Clerk Maxwell Institut angegliedert. In einem Memorandum von 1985 hatten sich fünf Länder bereit erklärt, die Finanzierung und den Betrieb einer solchen Anlage zu übernehmen (Frankreich 38%, Bundesrepublik 28%, Italien 15%, Großbritannien 15%/ Spanien 5%). Von den voraussichtlichen Gesamtinvestitionen in Höhe von ca. 400 Mio. DM entfallen auf die Gebäude und auf die Außenanlagen rund 100 Mio. DM. In Ermangelung ausreichender Erfahrung mit geeigneten Baukörpern für eine solche Anlage und um einen möglichst aufschlussreichen Überblick über die zu erwartenden Probleme und Kosten zu erhalten, wurden aus den beteiligten Ländern namhafte Industriearchitekten aufgefordert, Konzepte für die Gesamtanlage zu erstellen. Eines dieser Konzepte soll hier vorgestellt werden, weil die geplanten Maß nahmen außergewöhnliche Anforderungen an den Planer stellten. Neben einem hohen Maß an Flexibilität war im Hin blick auf das beachtliche Bauvolumen Maßstäblichkeit und der Bezug zum Menschen gefordert. Es sollte u.a. auch die Möglichkeit geschaffen werden, einzelne Gebäudeteile in fahrbarer Containerform an möglichst vielen Stellen des Gebäudes anklinken zu können.

Voraussetzungen

Synchrotronstrahlung ist die beim Betrieb von Kreisbeschleunigern und Speicher ringen auftretende elektromagnetische Strahlung. Sie umfasst das gesamte Spektrum vom Infrarot bis zum Röntgenbereich. Wegen der hohen Intensität, der starken Bündelung und der hohen Leuchtdichte ist sie allen anderen bisher bekannten Strahlungsquellen überlegen.

In den letzten Jahren war eine enorme Nachfrage nach Experimentiermöglichkeiten mit Synchrotronstrahlung zu bemerken, die durch die bisherige „parasitäre" Nutzung von Anlagen zur

Hochenergieforschung nicht mehr befriedigt werden kann. Aus dieser Situation entstand das Projekt der Erweiterung des bestehenden

ILL-Forschungsinstitutes in Grenoble um einen Speicherring, der ausschließlich der Forschung mit Synchrotronstrahlung zur Verfügung stehen soll.

Anwendungsgebiete der Synchrotronstrahlung sind die Atom- und Molekülphysik, die Festkörperphysik und Molekularbiologie, aber auch die anwendungsorientierte Forschung, etwa im Bereich der Halbleitertechnik.

Funktion

Die beschleunigten Elektronen in einem Speicherring geben Strahlung tangential zu ihrer Bahn ab: ein solches Elektron leuchtet also wie ein sehr gut gebündelter Autoscheinwerfer eines fast mit Lichtgeschwindigkeit durch den Ringtunnel rasenden Autos. Da mehrere Elektronen umlaufen, ist die Ebene des Beschleunigers oder Synchrotrons im zeitlichen Mittel ständig ausgeleuchtet. Um die Strahlung für Experimente nutzen zu können, muss sie durch die Abschirmwand des Tunnels hindurchgeführt werden.

Konzept

Im vorliegenden Projekt wurde die Abschirmwand an den Quellpunkten ausgezahnt, wodurch die zu durchdringende Wandstärke verringert und die Ausbildung der Durchdringung erleichtert wird. Von jedem der 32 vorgesehenen Quellpunkte aus können die Experimente in der Versuchshalle aufgebaut werden. Dazu wird der Strahl aufgespalten, über Spiegel zu Monochromatoren geleitet und spektral zerlegt. Die Strahlführung von der Quelle, den Magneten im Speicherring, bis zu den Experimenten erfordert Höchstleistungen in der Vakuumtechnik, in der Optik, beim Strahlenschutz und in der Steuerungs- und Regeltechnik. Um ein optimales Layout für diese äußerst komplizierten Experiment aufbauten zu ermöglichen, wurde die Außenwand der Halle analog zum Ringtunnel ausgezahnt und kann im Bedarfs fall noch zusätzlich nach außen erweitert werden. Dieses Prinzip der Flexibilität und die damit verbundenen Anforderungen waren auch für die Gesamtgestaltung der Hallenfassade bestimmend. Auch die Konstruktion der Halle wurde daher so angeordnet, dass Fixpunkte wie tragende Stützen, Auf- und Abgänge sowie senkrechte Medienverteilungen gleichmäßig zwischen den möglichen Strahlenausgängen zu liegen kommen. Die Anordnung der benachbarten Labors sollte in Richtung der tangentialen Strahlen ausgebildet sein, um diese zu begleiten und Weiterentwicklung nach außen nicht zu behindern, sondern, falls verlangt, diese in Addition, deren Funktion unterstützend, beweglich begleiten. So ist es möglich, jeder Experimentanordnung die gesamte Infrastruktur eines Arbeitsplatzes vor Ort (Labors, Büros, Handbibliotheken, Rast-Ruhe-Räume, WCs, Duschen) zu bieten; jedes Experiment, bedingt durch eigene horizontale und vertikale Andienung, separat zu messen, an jeder möglichen Strahlenausgangsstelle Versuchsaufbauten bis zu einer Länge von mindestens 160 m und, wo dies das Grundstück und Eigentumsverhältnisse erlauben, auch länger anzugliedern. Dieses geschieht geordnet, da die Bauteile aus vorgefertigten Elementen im Baukastensystem gebildet werden.

Die tangential aus der Haupthalle her ausragenden dreieckförmigen Labors, an deren Stirnseite Erweiterungselemente angebracht werden können, lösen für jede Einheit die Unendlichkeit der Ring form auf und bilden intime, bepflanzte Freizonen, die eine Identifikationsmöglichkeit mit dem eigenen Sektor (EG Labors, OG Büros) herstellen und somit der Humanisierung des Arbeitsplatzes Rechnung tragen, die Kreativität der Forscher unterstützen und anregen. Die stirnseitigen Erweiterungselemente können auch aus Containereinheiten bestehen, die von deren Heimatinstituten oder Anstalten präpariert und angeliefert, nur noch angekoppelt werden müssen, um sofort arbeitsbereit zu sein. Dies, in Verbindung mit der Tatsache, dass an beinahe jeder Stelle beliebige Strahlenlängen produziert werden können, sollte Warte-, Vorlauf- und Nachlaufzeiten beträchtlich minimieren können (Versuchsaufbauzeiten vor Ort dauern normalerweise mehrere Wochen). Die Höhe der Experimentierhalle ist abhängig von der Hakenhöhe des Kranes, der Kranbahnkonstruktion sowie der nötigen Überfahrt (safety distance). Auf der Kranbrücke sollte außerdem ein Mann stehen können, um Wartungs- und Austauscharbeiten an Lampen und sonstigem technischem Equipment ausführen zu können.

Die gewählte Hallenhöhe (6/50 m) hat zusätzlich noch den Effekt, dass das Fehlen einer Lüftungsanlage, welche nur mit erheblichen finanziellen Mitteln realisierbar wäre, durch die Thermik zu einem großen Teil kompensiert wird. Der unter den, im Abstand mit großen Luftzutrittsquerschnitten montierten, Dachschalen entstehende Luftzug unterstützt diesen Effekt.

Die horizontale Leitungsführung für alle Medien erfolgt in einem ausreichend dimensionierten Bodenkanal (Hauptkanal), der die gesamte Hallenlänge der Außenwand zugelagert umläuft. Die Verteilung zu den Versuchsanordnungen im Boden wird durch ein System von tangentialen und radialen Bodenkanälen er reicht.

Die vertikale Medienführung erfolgt in den verglasten Hauptstützen, an deren Halleninnenseite auch die Unterstationen und Messvorrichtungen untergebracht sind. Die Verteilung für die Labor und Büroanbauten erfolgt im Doppel boden der Gangway und der Labor decke.

Alle Technikeinrichtungen sollten leicht zugänglich, ausreichend dimensioniert und vor allem bei allen Temperatur- und Wetterbedingungen bedient und gewartet werden können. Auf eine sichtbare Darstellung der Technik, soweit sie diesem Prinzip entgegensteht, wurde bewusst verzichtet. Material für Dach und Außenwände sind Aluminiumblechpaneele, die auf einer Unterkonstruktion aus beschichteten Stahlblechpaneelen befestigt sind, die wiederum die Wärmedämmung aufnehmen. Das Tageslicht wird durch horizontale Fensterbänder in der Außenwand in die Halle gebracht. Der Sonnenschutz wird durch vertikale Jalousien gebildet. Auf Belichtung über die Dachfläche wird verzichtet, da diese im Grunde nur nachteilige Effekte für Datensichtgeräte, schwer bedienbare, wartungsaufwendige Sonnenschutzeinrichtungen, aufwendige Dachdetails mit mannigfaltigen Schadensquellen bedeuten.

Konstruktion

Um die geforderte Flexibilität zu erzielen, wurde ein hoher Vorfertigungsgrad und eine strenge Modularität angestrebt. Die stützenfreie Überspannung der Versuchshalle wird durch eine Bogenkonstruktion bewerkstelligt, die bei einer Spannweite von 30 m aus einem nur 30 cm dicken Stahlrohr mit Zugband besteht. In den Außenstützen dieser Konstruktion erfolgt die Vertikalverteilung sämtlicher Medien. Dach und Wände sind aus weitgehend wartungsfreien Aluminium- und Glaselementen hergestellt. Durch die konsequente Anwendung dieser Konstruktionsideen konnten die projektierten Baukosten unter den vom Nutzer geforderten Angaben gehalten werden.

Die Halle überdacht den Experimentier bereich einschließlich Main Ring Tunnel. Die Konstruktion wird völlig unabhängig vom Hallenboden, vom Tunnel und von weiteren Einbauten unterhalb des Hallenbodens errichtet. Die Konstruktion ist vollständig verschweißt; Montagestöße werden verschweißt oder über hochfeste Schrauben verbunden. Jeder Hallenabschnitt zwischen zwei Stützen auf der Außenseite als Bezugs maß bildet eine konstruktive Einheit. In den Achsen der Außenstützen wird der Horizontalschub der Bögen dieser Einheit, d.h. etwa alle 24m durch vorgespannte Zugglieder ausgeglichen. Damit bleiben die Stützen völlig frei von Horizontalkräften aus dem Dachsystem. Ein Anbau umfasst mindestens eine solche Einheit; das Aneinanderfügen ist ohne weiteres möglich. Ebenso könnte, bei Bedarf, aus dem Hallensystem eine solche Einheit herausgelöst werden, ohne dass das Tragverhalten des Gesamtsystems beeinflusst wird. Die Kranbahn läuft unabhängig auf einer vorgesetzten Konstruktion. Der Tunnel wird ohne Erdanschüttung ausgeführt;

die Abschirmung erfolgt über die Betonwände. Wegen des geringen Gewichts der Konstruktion beeinflussen ihre Fundamente das Setzungsverhalten des Ringtunnels nicht.

Form

Hier gilt: „Form follows function". Die Hauptfunktion Produktion von tangentialen „beams" und die Anordnung von Versuchseinheiten entlang dieser „beams" soll auch durch die tangential angebauten Gebäudeteile an den Ring und die Experimentierhalle Ausdruck verliehen werden.

Die Kriterien der Funktionalität waren dabei aber nicht auf rein technische Aspekte beschränkt. Es war uns gleicher maßen ein Anliegen, den Bedürfnissen der zukünftigen Benutzer Rechnung zu tragen.

Menschlicher Arbeitsplatz

Ziel des Entwurfs sollte es sein, einen Arbeitsplatz zu schaffen, der die Kreativität der Mitarbeiter unterstützt und eine ungezwungene Kommunikation der bis zu 400 ESRL-Wissenschaftler zulässt, aber auch die Einbindung von ca. 1000 Gastwissenschaftlern pro Jahr, die etwa 14tägige Versuchsarbeiten durchführen, ermöglicht und fördert.

Alle Arbeitsplätze, auch die der zwischen den Versuchsaufbauten in der Experimentierhalle bei Messversuchen sitzen den Mitarbeiter, haben Ausblick ins Freie.

Die Wissenschaftler haben aus der Halle direkten Zugang zu eigenen Labors und Diskussionsnischen, von denen man aus die Versuche noch beobachten kann, zu Seminarräumen bis zu Einzelbürozellen mit Schlafnischen bei 24-Stunden-Testreihen. Den persönlichen Bedürfnissen sind Büros und Labors angepasst mit einem Ausblick in die Grünanlagen und, wenn möglich, Austritt ins Freie; mit der Möglichkeit, sich zurückzuziehen, aber auch in unmittelbarer Nähe des Versuchsplatzes miteinander zu reden und Erfahrungen auszutauschen. Die Anordnung der Büros, Aufenthalts räume (mit Handbibliotheken, Teeküchen, Seminarplätzen) Rechner, Labors und Versuchseinheiten entlang der „beams" schafft diese Möglichkeit ohne Zwänge, Dunkelräume oder zu große Raumtiefen und Entfernungen.

Degenhard Sommer / Edwin Bopp

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